Die Legende des Hauses Erlenfels

„Cob, erzähl uns eine Geschichte!“ Das Feuer knisterte wohlig im Kamin der Taverne, es roch nach Äpfeln und die Leute schoben sich genüsslich Metkuchen in den Mund und sahen den alten Geschichtenerzähler erwartungsvoll an. Dieser jedoch schüttelte brummelnd den Kopf und deutete an, dass sein Krug wohl leer sei. Rasch wurde eine Schankmaid herbei gerufen und der Krug wurde wieder aufgefüllt. Das Gesicht des alten Mannes erhellte sich, er richtete sich auf und es wurde leiser im Raum.

„Was viele heutzutage nicht mehr wissen, ist, dass das Haus Erlenfels nicht immer so hieß. Einst, vor acht Generationen, nannte man die Edlen hier noch Haus Felsenburg. Ich will euch nun erzählen, wie es dazu kam.

Abstammend von Chaim, einem der Söhne des Herrn Arinus, wie ihr wohl alle wisst, siedelten sich einige Menschen auf einem scheinbar eher kargen Landstrich an. Dieser lag hochdroben auf einem felsigen Plateau, von welchem man weit in das Land der Orken blicken konnte. Hier waren die Winter hart, die Flüsse froren schnell zu und so musste häufig der Kampf gegen die wilden Geschöpfe der Feuersteppe ausgetragen werden. Recht schnell wurde auf dem Felsenplateau eine Burg errichtet, auf dass der Feind sie bis weit ins Land erblicken konnte und sie Furcht in ihre Herzen brachte. An dieser Stelle vermag ich nicht all die Geschichten erzählen, die man erzählen müsste – von Syman von der Felsenburg, dem ersten bekannten Freiherren dieses Ortes und seiner Frau Dorell Schwanenschlag, die gemeinsam an der Seite ihres Geliebten kämpfte.

Nein – heute will ich euch von Seyfrid berichten, dem Letzten des Hauses Felsenburg. Seyfrid, hochgewachsen und mit Haar wie von Feuer, war vielfach erfüllt von der Leidenschaft des Herrn Arinus, er trug den Krieg bis tief in das Orkland, aber – so erzählt man sich – seine Streitlust war groß und er focht viele Fehden mit anderen Edlen des Rothengaus. Sein Durst nach Kampf konnte kaum gestillt werden und so kam es tatsächlich, dass sich zwei Heere des Rothengaus gegenüber standen, in einer Zeit in der wir gegen die Orken kämpfen sollten. Rot-grüne Banner wehten auf beiden Seiten und vom Blut rot gefärbt flossen bald die Flüsse durch grüne Auen. Zahlreiche Verletzte und Sterbende lagen auf dem Boden, als Seyfrid einer Kämpferin gewahr wurde, deren Schwert bereits dunkel war und es fordernd auf ihn richtete. Es wurde ruhig auf dem Schlachtfeld, kein Vogel sang mehr, selbst der Herr Aeron hielt inne, sodass sich nicht mal mehr der kleinste Grashalm unter seiner luftigen Brise bog.

Die beiden Kämpfenden umkreisten sich in einem perfekten Tanz, die Schwerter blitzten funkensprühend und es schien, als ob sie jede Bewegung des anderen vorhersehen konnten, dem anderen ebenbürtig.  Die Stille um sie herum wurde immer tiefer, jeder ahnte, dass sich hier und jetzt dieser Streit entscheiden würde, der so viel Zwietracht hervorgebracht und so viel rothengauisches Blut vergossen hatte.

Da plötzlich – schnell wie Quecksilber – wurde das Schwert der Kämpferin hervorgestoßen, nur um einen Bruchteil schneller als das Schwert des Freiherren. Das vom Blut dunkle Schwert fand genau sein Ziel in einer Lücke der Rüstung und wurde gnadenlos in das Fleisch getrieben. In diesem Moment erhob sich der Wind und ein Sturm brauste über das Feld – traurig und wehklagend. Dieser Wind löste den Gesichtsschutz der beiden Kämpfenden, und ein jeder sah das Blut, das aus Seyfrids Seite floss, genauso rot leuchtend wie sein Haar. Auch sahen sie die Frau, deren Haut so silbrig blass war, wie der Mond selbst. In diesem Moment als jedem klar wurde, dass diese Verletzung nur eine tödliche sein konnte, sahen die beiden sich zum ersten Male wirklich an. Der Wind brachte Klarheit über ihre Gedanken, er zügelte den Zorn und sie erkannten, welchen Fehler sie gemacht hatten. In diesem Moment der Erkenntnis stürzte Seyfrid zu Boden und die junge Frau stürzte hinterher, um seinen Fall zu lindern. Leise sprach sie Worte, sprach seinen Namen und wieder erklang das Wehklagen des Windes, denn auch wenn ihre Worte mächtig waren und sie seinen Namen kannte, floss das Blut weiter aus seiner Wunden, nunmehr aber nicht mehr wie ein Fluss, sondern nur noch ein zartes Rinnsal. Dieses zweite Wehklagen des Windes ließ auch die anderen Streiter aus ihrer Erstarrung erwachen und auch sie erkannten, was sie getan hatten. Sorgsam und mit größter Mühe wurde Seyfrid auf einer Bahre zu seiner Burg gebracht, an seiner Seite stets die Frau mit der silbrig-weißen Haut. Auf der Felsenburg sorgte sie Tag und Nacht für ihn, sprach wieder seinen Namen, doch rasch wurde klar, von dieser Wunde könnte sich kein Mensch erholen.

Bereits in ihrem ersten Erkennen, dort auf jenem blutigen Antlitz des Krieges, wandten sich ihre Herzen einander zu, und bei jedem Blick ging diese Verbundenheit tiefer. Seyfrid war nun klar, dass in ihm nicht die Leidenschaft des Herrn Arinus getobt hatte, sondern etwas anderes, aber dieses Dunkel war nun fort. Ein Jahr und einen Tag konnten die junge Frau und Seyfrid noch miteinander verbringen. Zwar war er geschwächt und immer wieder öffnete sich die geschlagene Wunde, aber zum ersten Mal herrschte er in seinem Land, wie es sein sollte – als Diener seines Landes. Drei Kinder, drei Mädchen, wurden den Liebenden geboren: Murit, Ilanah und Aellin, ihre Geschichten sollen an einem anderen Abend erzählt werden. Seyfrid und seine Frau konnten ihnen nach altem Brauch noch diese Namen geben und mit dem letzten Namen, dem letzten Hauch Aerons in seinen Lungen,  floss auch zum letzten Male Blut aus der Wunde. Und so starb Seyfrid von der Felsenburg.

Nun fragt ihr euch sicherlich, wie es dazu kam, dass aus der Felsenburg der Erlenfels wurde, dies kam bislang ja noch gar nicht in der Geschichte vor, sagt ihr. Das stimmt und so erzähle ich euch, das Ende des Hauses Felsenburg.

In tiefer Trauer über den Tod ihres Geliebten und gleichzeitig erfüllt von der Liebe zu ihren Kindern, nahm die Frau, mit der silbrigen Haut, ihr Schwert. Immer noch tropfte das Blut Seyfrids davon herab, denn es war an der seltsamen Klinge nicht trocken geworden. Sie trug es an die Spitze des Felsplateaus, über ihr hellleuchtend der halbe Mond. Jeder Blutstropfen, der herabfiel, ließ eine feuerrote Blume erblühen und als sie die Spitze des Felsens erreichte, stieß sie das Schwert tief in den Stein und rief mit lauter Stimme den folgenden Schwur: „Bei meiner Mutter, bei Thyia – Herrin über die Seelen, verspreche ich, dass ich niemals wieder mein Schwert erhebe. Ich verspreche, dass dieses Land erblühen soll und von hieran unter meinem Schutze steht. Von diesem Tage an soll dieser Ort ein Ort des Friedens werden. Ich werde nun an die Seite meiner Schwestern treten, um auch Frieden zwischen ihnen zu bringen!“ Das Schwert, welches tief in den Stein getrieben worden war, war in diesem Moment kein Schwert mehr, sondern der Schössling einer Erle, die mitten aus dem Stein emporwuchs. Von diesem Zeitpunkt an, gab es das Haus Felsenburg nicht mehr. Es hieß und heißt nun Erlenfels. Und anders als es in den anderen Freiherrschaften gewesen ist, ward fortan nicht nur ein Sohn als Herrscher anerkannt, sondern auch die Tochter. Als Zeichen ihrer Würde trugen die Diener des Landes nun immer einen Teil jener Erle mit sich, die aus dem Schwert im Fels erwachsen war. Als Zeichen der Verbundenheit zu ihrer Ahnherrin und als Zeichen ihrer Verantwortung für das Land.

Aber Obacht! Der kluge Zuhörer hat sicherlich genau auf die Worte des Schwures geachtet, denn erst dort, an dieser Stelle an der nun die Erle wuchs, offenbarte die Frau mit der Haut wie von Silber ihre wahre Natur, sie nannte ihre Mutter beim Namen und nahm die Stellung zwischen ihren Schwestern ein. Jedes Kind in Erlenfels kennt ihren Namen und spricht ihn voller Liebe und Zuneigung aus. Enanna. Unsere Herrin, die wir immer wieder am Himmel erstrahlen sehen als der halbe Mond, als Mittlerin zwischen ihren Schwestern Anuada, dem vollen Mond und Sotis, dem dunklen Mond.

Hier endet nun diese Geschichte und merke dir gut, dass sie dich sieht, wenn du im falschen Stolz mit einem anderen Rothengauer streitest. Möge ihr Licht dir die Augen öffnen.“