Die Schlacht der weinenden Felsen

Es war Zeit für den Wachwechsel, Perval spürte, wie die Müdigkeit ihn immer mehr überkam und natürlich konnte und würde er nicht vor den Augen seiner Leute anfangen zu gähnen. Leicht kratzte er sich durch den Bart und blickte wieder hinaus auf das weite, offene Land. Hier oben, von der Spitze des Erlenfelses aus, hier hatte man wahrlich den schönsten Blick – in das Land des Feindes. Vor wenigen Tagen erst war der jährliche Kriegszug dorthin gegen die Orken gezogen. Wie immer wohlbeschwingt, hatte man ihnen auch von hier aus zugewunken; traditionsgemäß winkten die Frauen mit den grünen Tüchern und die Männer, die hier blieben, mit roten.

Schultheiß Perval seufzte und zuckte dann mit den Schultern – es brachte nichts, sehnsüchtig dorthin zu starren, er hatte schließlich eine Aufgabe hier. Er wandte seine Augen von der Steppe ab und blickte auf die kleine, aber dennoch trutzige Burg und natürlich auch auf die riesige Erle, die ihm stets ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

„So Leute, nicht einschlafen, eine letzte Runde! Bewegt eure Ärsche und dann geht es für euch zum Bier!“ Die Männer und Frauen grinsten und bewegten sich an den Mauern entlang, wie es sein sollte. Allesamt gute Leute – Valt und Gythie, Andela und Emmeran. Wie üblich, wie jeden Tag bevor er seine Leute in die Stube schickte, wollte er noch ein letztes Mal in die Steppen blicken – aber was er heute dort erahnte, ließ ihn innehalten.

Was war da los bei allen Göttern? Perval kniff die Augen zusammen, um genauer zu erkennen, was er dort zu sehen glaubte. Aus Richtung der letzten bekannten Wasserstelle vor den Orklanden, der Quelle der weinenden Felsen, kam jede Menge Bewegung. Mühevoll konnte er durch die erhitzte Landschaft rote und grüne Banner flattern sehen, aber warum kehrten sie schon zurück? Sein Atem stockte als er langsam, wie in einer klebrigen Masse gefangen, erkannte, was er dort sah.

Das Heer floh.

Es war kein geordneter, geplanter Rückzug, mit dem einen oder anderen Orkkopf als Trophäe vor sich tragend, nein.

Endlich konnte er schreien: „Alarm! Die Orken!“ Als er dies rief, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Selbstverständlich ging zum einen die warnende Glocke los und riss den Erlenfels, den von der Göttin Enanna selbst gesegneten Ort, aus seinem Frieden. Menschen liefen durch die Gegend, man hörte Waffenklirren und laute Rufe.

Zum anderen hörte man noch weiteres, aber aus der Ferne. Wildes Gebrüll, Schmerzenslaute und – die Kriegstrommeln der Orks. Perval hatte immer mal wieder Geschichten darüber gehört, aber hier, hier hatte man sie seit den Tagen als die Herrin Enanna hier wandelte nicht mehr gehört.

Laut brüllte er Befehle und beobachtete dabei weiter das Geschehen. Das rothengauische Heer ritt in einem rasanten Galopp auf den rettenden Grenzfluss zu. Wenn sie diesen erreichten, waren sie gerettet. Perval konnte gut die kleinen und größeren Boote erkennen, mit denen sie doch gerade erst herübergesetzt hatten. Die Entfernung schwand – den Göttern sei Dank – immer weiter, aber dafür wurde auch das Trommeln und Brüllen immer lauter. Grinsend sah er aber, wie das feige orkische Pack langsamer wurde, sie hatten wohl realisiert, dass sie verloren hatten. Er nickte kurz Valt und Andela zu, die einige Heilkundige begleiten würden, es war wohl das Schlimmste geschafft. Da vernahm er den erstickten Schrei von Emmeran. „Perval, dort, dort! Sieh nur!“ Mit aufgerissenen Augen deutete der kräftige Mann auf die rettenden Boote. „Was denn Mann?“, Perval verstand zunächst nicht, aber dann schien es ihm als ob sein Herz für einen Moment aussetzte. Gerade als immer mehr seiner Landsleute schreiend und ächzend an dem Brückenkopf ankamen, stürmten sie plötzlich mit Fackeln und Waffen in den grässlichen Pranken hervor. Später würde man sich erzählen, dass sie sich wohl in der Nacht unter einem dunklen Zauber dorthin geschlichen hatten, gut versteckt zwischen den Booten und dem Schilf. Große Orks, geifernd und scheinbar höhnisch lachend, schwangen sie ihre schartigen Schwerter. Das erste Blut spritzte in den Grenzfluss – und das Trommeln wurde wieder lauter, energischer.

Mit einer sich überschlagenden Stimme erteilte er wieder Befehle und rannte selbst mit einem Trupp Erlenfelser los. Vor sich auf dem Weg den Felsen hinab zum Fluss, sah er die Heilkundigen, unter ihnen auch die Freifrau Katharina. Oben auf der Burg schlugen nun alle Glocken. Andela hielt an, ließ ihn und die anderen Erlenfelser vorbei, um ihrem Schultheis vorzulassen und die Heilkundigen zu sichern. Unten am Fluss angelangt, machten sich bereits die Fischer fertig, um mit weiteren Booten den Menschen dort im Feindesland zu helfen. Einer der Dorfleute überließ ihm stumm das Boot, und Perval und Emmeran begannen zu rudern. Erst dachte er, er würde es sich einbilden, aber dann war er sich sicher. Das Wasser, welches von dem Ruder perlte, glitzerte wie hunderte Rubine.

Und dann roch er es, den Rauch, das schwelende Fleisch. Der Brückenkopf brannte. Das Heer war gefangen, abgeschnitten und diesen Kreaturen ausgeliefert. Er legte sich stärker in die Riemen und noch bevor das Boot auf der Feindesseite des Flusses landete, sprang er schon mit seinem Schwert in der Hand ans Ufer. Mit schnellen Schritten rannte er in Richtung des Brückenkopfes, eilte um den Seinen beizustehen, als ihn plötzlich etwas durchzuckte. Ungläubig fiel sein Blick auf seine Brust, als auch der eigentlich grüne Mond, das Zeichen seiner Herrin Enanna, sich rot färbte. Langsam fiel er, wie in Zeitlupe. Für einen, viel zu kurzen Moment konnte er noch die Erle dort oben auf dem Felsen sehen, sah dann Emmeran schon tot auf dem Boden liegen, seinen langjährigen Weggefährten. Doch dann wandte sich sein Blick ab und er erblickte seinen Mörder – seine Mörderin, mit einem Messer in der Hand, welches sie gerade ableckte. „Mein Blut.. das ist mein Blut…oh Göttin..“

Aber kein Blitz fuhr herab, kein Donner grollte und auch der Herr Aeron blieb still, denn kein Sturm toste, als Perval fiel – und mit ihm das Heer der Rothengauer.